Auditive Wahrnehmungsstörung

Die Stationen des Hörens (stark vereinfachte Darstellung):

Aufnehmen des Schalls im Mittelohr:
Beim Hören trifft ein Schall (Sprache, Töne oder Geräusche) auf unser Ohr. Dieser Schall löst in unserem Trommelfell Schwingungen aus, die auf die Gehörknöchelchen im Mittelohr weitergeleitet werden. Das Mittelohr selber ist aber nicht in der Lage, den Schall zu hören. Es dient nur der Schall-Weiterleitung und der Schall-Verstärkung.
Diese Station ist bei Kindern mit auditiver Wahrnehmungsstörung intakt, es sei denn, es liegt zusätzlich eine Mittelohr-Problematik vor, zum Beispiel ein Erguss hinter dem Trommelfell.

Hören des Schalls im Innenohr:
Die Schwingungen der Gehörknöchelchen lösen auch im Innenohr Schwingungen aus, und zwar in der Gehörschnecke. Diese Schwingungen sind unterschiedlich groß, je nach Tonhöhe. Entsprechend der Tonhöhe findet schließlich eine Reizung an einer ganz bestimmten Stelle in der Hörschnecke statt.
Auch diese Station ist bei Kindern mit auditiver Wahrnehmungsstörung intakt.

Weiterleitung des Schalls auf Nervenbahnen (=zentrale Hörbahn):
Dort, wo im Innenohr die Hörschnecke gereizt wird, reagieren Nervenfasern auf diese Reizung. Die Nerven nehmen diesen Impuls auf und leiten ihn über verschiedene Nervenbahnen und Nerven-Umschalt-Stellen weiter in Richtung Gehirn.
Bereits in diesen Schaltstellen finden erste Analysen des Gehörten statt. Je nachdem, was ankommt, wird der Schall über bestimmte ausgewählte Nervenfasern weitergeleitet. Diese Analysen sind aber noch sehr grob. Zum Beispiel vollzieht sich hier ein erster Vergleich zwischen den Höreindrücken beider Ohren, was für das Richtungshören (=Erkennen, aus welcher Richtung ein Schall kommt) wichtig ist. Auch andere Dinge werden hier schon analysiert, und es finden erste grobe Einordnungen zur Erkennung der Geräusche oder der Töne statt.
Bei den meisten Kindern mit auditiver Wahrnehmungsstörung liegen hier die ersten Schwierigkeiten.

Erkennen des Gehörten im Gehirn:
Über die Nerven kommt das Gehörte im Gehirn an. Im Gehirn vollzieht sich dann die eigentliche auditive Wahrnehmung. Bislang wurde der Schall nur aufgenommen und weitergeleitet. Erst durch die Verarbeitung im Gehirn können wir einordnen, WAS wir gehört haben, wie laut es war, was es bedeutet, woran es uns erinnert, worin Unterschiede zu anderem Gehörtem liegen, ob es ein wichtiger Schall war (z.B. die Stimme der Lehrkraft) oder ein unwichtiger (z.B. das Rascheln mit den Blättern des Banknachbarn) und vieles andere mehr.
Alle Leistungen des Gehirns in Bezug auf die auditive Wahrnehmung werden im Folgenden dargestellt.
Genau hier liegen die Schwierigkeiten der Kinder mit auditiver Wahrnehmungsstörung. WARUM diese Schwierigkeiten auftreten, bleibt in den meisten Fällen ungeklärt.
Kinder mit auditiver Wahrnehmungsstörung hören alles, aber sie hören vieles anders als andere Kinder und ordnen die Höreindrücke anders oder sogar gar nicht ein.


Störung der auditiven Wahrnehmung:

Im Folgenden werden die verschiedenen Leistungen der auditiven Wahrnehmung erläutert. Die meisten Kinder zeigen nicht nur in einem oder in zwei dieser Teilleistungen Auffälligkeiten, sondern meistens liegen Kombinationen der Schwächen in unterschiedlichen Bereichen vor. Diese Schwächen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein.

Auditive Aufmerksamkeit:
Auditive Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, sich einem Schall zuzuwenden und diesen bewusst wahrzunehmen. Diese Fähigkeit ist eine grundlegend notwendige Leistung für alle folgenden Leistungen.
Ist die auditive Aufmerksamkeit gestört, so ist das Kind im ausgeprägtesten Fall nicht in der Lage, sich auf Geräusche und Sprache zu konzentrieren. Vor allem gelingt dies nicht über einen längeren Zeitraum.


Speicherung von Gehörtem:
Das Gehirn ist in der Lage, Gehörtes erst im Kurzzeitgedächtnis zu speichern, bevor es durch ständige Wiederholung in das Langzeitgedächtnis übertragen wird. Den Speicher im Kurzzeitgedächtnis brauchen wir zum Beispiel, um mehrere kurz aufeinander folgende Höreindrücke miteinander in Verbindung bringen zu können. Wir brauchen ihn zum Beispiel dafür, um zwei Höreindrücke später miteinander vergleichen zu können, um Unterschiede erkennen zu können. Den Langzeitspeicher brauchen wir, um Dinge, die wir schon einmal gehört haben, wiederzuerkennen. Wir brauchen ihn beispielsweise auch, um Wortschatz oder Satzmuster aufbauen zu können. Und wir brauchen die Speicherung, um uns allgemein in unserer klanglichen Umgebung zurechtfinden zu können, indem wir die Geräuschkulisse durch Vergleiche mit früher bereits Gehörtem einordnen können.
Bei Störungen in der Speicherung sind die Kinder nicht oder nur unzureichend in der Lage, sich Worte, Ausdrücke, Aufträge, Gedichte oder Lieder zu merken. Im ausgeprägtesten Fall werden auch Geräusche nicht wieder erkannt, wodurch die Kinder ständig mit für sie neuen Höreindrücken konfrontiert werden, die sie nur schwer einordnen können. Dadurch fällt es diesen Kindern dann enorm schwer, sich zu sortieren, sich zu konzentrieren und sich zu orientieren.

Reihenfolgespeicherung von Gehörtem (= „Sequenzverständnis“)
Das Gehirn ist in der Lage, Höreindrücke in ihrer richtigen Reihenfolge zu speichern. Dies ist zum Beispiel für den Erwerb von Satzmustern, aber auch von Wörtern wichtig. Zum Beispiel für die sogenannte „Wortdurchgliederung“. Dies bezeichnet das Wissen darüber, an welche Stelle im Wort welcher Buchstabe/Laut gehört.
Auch außer-sprachlich gibt es viele Situationen, in denen eine Abspeicherung des Gehörten in der richtigen Reihenfolge wichtig ist.
Kinder mit Schwierigkeiten in diesem Bereich zeigen in der Sprachentwicklung oft hartnäckige Laut- oder Silbenverdrehungen, die sich später auch in der Schriftsprache zeigen.

Richtungshören:
Das Gehirn ist in der Lage festzustellen, aus welcher Richtung ein Schall kommt und wie weit die Entfernung zur Schallquelle ist.
Wenn das Richtungshören beeinträchtigt ist, können sich die Kinder im ausgeprägtesten Fall nicht der Schallquelle zuwenden. Die Kinder können sich dann nicht oder nur unzureichend auf den Schall konzentrieren. Bei reduziertem Richtungshören fällt es zudem schwer, den „Nutzschall“ vom „Störschall“ abzugrenzen (z.B. die Stimme der Lehrkraft aus dem Lärm im Klassenzimmer heraushören). Kinder mit reduziertem Richtungshören sind auch im Straßenverkehr besonders gefährdet. Auch die Einschätzung bezüglich der Entfernung von Geräuschen (z.B. ein herannahendes Auto) gelingt nicht ausreichend.

Unterscheidung unterschiedlicher Höreindrücke (= „Differenzierung“):
Das Gehirn ist in der Lage, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Höreindrücken (z.B. zwischen Worten, aber auch außer-sprachlich zwischen Geräuschen) zu erkennen.
Wenn die Differenzierungsfähigkeit eingeschränkt ist, zeigen die Kinder sprachlich zum Beispiel hartnäckige Lautersetzungen, z.B. ersetzen sie „k“ durch „t“, obwohl sie oftmals eigentlich in der Lage sind, „k“ zu sagen. Das Problem ist, dass sie im Alltag aus der Sprache nicht heraushören können, in welchen Worten der besagte Laut vorkommt. Sie hören den Unterschied zwischen „k“ und „t“ nicht deutlich genug, um hier Fortschritte machen zu können.
Selbst, wenn die Kinder keine groben Fehler mehr beim Sprechen machen, kann man später beim Schreiberwerb häufig noch Schwierigkeiten in der Differenzierungsleistung erkennen.

Figur-Hintergrund-Unterscheidung:
Das Gehirn ist in der Lage, wichtige, bedeutungsvolle Geräusche aus der Umgebungs-Geräusch-Kulisse herauszuhören. Es kann den sogenannten „Nutzschall“ vom „Störschall“ abgrenzen und herausfiltern. Der Störschall kann ausgeblendet werden.
Kinder mit Schwierigkeiten in diesem Bereich haben meist enorme Probleme, jemandem zuzuhören. Sobald andere Geräusche in der Umgebung sind, lassen sie sich ablenken oder verstehen die sprechende Person nicht mehr. Je mehr Störgeräusche da sind, umso schwieriger wird die Situation für diese Kinder. In der Praxis kommt es nicht allzu selten vor, dass Kinder im Einzelkontakt, also zum Beispiel in der logopädischen Therapiestunde, völlig konzentriert arbeiten können, während nahezu sämtliche eigentlich vorhandenen Fähigkeiten des Kindes in der Kindergarten-Gruppe oder in der Schulklasse zusammenzubrechen scheinen.

Analyse:
Das Gehirn ist in der Lage, einzelne Elemente aus einem komplexen Höreindruck herauszulösen. Im Bereich der Sprache bedeutet das zum Beispiel, dass das Gehirn in der Lage ist, in einem Wort die einzelnen Buchstaben zu bestimmen, selbst wenn es ein Wort ist, das man noch nie zuvor gehört hat.
Kinder mit Schwierigkeiten in diesem Bereich zeigen sprachlich oft hartnäckige Lautersetzungen.
Im ausgeprägtesten Fall erkennen sie Wörter nur als ein Ganzes und haben wenig Vorstellung darüber, dass Wörter einen Anfang und ein Ende haben. Sie haben wenig Vorstellung über die einzelnen Laute, die in einem Wort vorkommen, obwohl diese Leistung bereits vor der Einschulung erworben wird.
Später können diese Kinder aus diesen Gründen häufig nur schwer die Schriftsprache erwerben und zeigen so nicht selten eine Lese-Rechtschreib-Schwäche.

Synthese:
Das Gehirn ist in der Lage, einzelne Schall-Elemente zu einem Ganzen zusammenzusetzen und zu verstehen. Im sprachlichen Bereich kann es aus nacheinander gesprochenen Einzellauten ein Wort zusammensetzen. Die Synthese ist somit das Gegenstück zur Analyseleistung.
Kinder mit Schwierigkeiten in diesem Bereich zeigen häufig eine Lese-Rechtschreib-Schwäche.


Ergänzung:
Wenn wir aufgrund von Störgeräuschen oder aus anderen Gründen etwas nur teilweise verstehen oder hören können, ist unser Gehirn bis zu einem gewissen Grad in der Lage, das Fehlende zu ergänzen. Dies gilt für die sprachliche wie die außer-sprachliche Ebene. Auch nur fragmentarisch wahrgenommene Geräusche können durch die Ergänzungsleistung erkannt werden, wenn noch bestimmte Merkmale erhalten sind.
Kinder mit Problemen in diesem Bereich haben häufig äußerst große Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen, da im Klassenraum sehr oft eine gewisse Unruhe herrscht, so dass man die Worte der Lehrkraft nicht selten nur fragmentarisch hört. Bei Diktaten kommt es häufig vor, dass diese Kinder versagen, da sie das, was sie nicht Laut für Laut gehört haben, nicht sinnvoll ergänzen und aufschreiben können.

Behandlung:

Förderung der auditiven Wahrnehmung durch technische Hörtrainings:

Wir befürworten die parallele Behandlung mit speziellen Hörtrainings, die das Gehör durch klangveränderte Reize beeinflussen sollen. Dabei werden den Ohren und dem Gehirn mit Hilfe von technischen Geräten Musik, Sprache oder Geräusche angeboten, die durch ihre besondere Beschaffenheit direkten Einfluss auf die auditiven Wahrnehmungsfunktionen haben sollen. Die Effekte beruhen unter anderem auf:

  • Lateralisation:
    Die Musik und die Sprache wandern dabei durch den Kopfhörer immer abwechselnd von einem Ohr zum anderen.
    Durch diese Anregung sollen Nervenstrukturen neu miteinander verbunden werden; die Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften soll gefördert werden. Die Lateralisation soll Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit, auf das Sprachverständnis, auf das Richtungshören, auf das Entfernungshören, auf die Figur-Hintergrund-Wahrnehmung, auf die Merkfähigkeit und auf die Unterscheidungsfähigkeit akustischer Reize haben.
  • Hochtonfilterung:
    Bei der Musik und der Sprache werden die tiefen Klanganteile herausgeschnitten und die hohen Klanganteile verstärkt. Dadurch klingt vor allem die Sprache sehr klar und deutlich, weil eine akustische Kontrasterhöhung stattfindet.
    Dadurch soll das Nervensystem angeregt werden. Durch die hohen Töne soll zudem eine erhöhte Energiezufuhr im Gehirn stattfinden.

Verbesserung des Umgangs des Kindes mit seinen Schwierigkeiten:
Außerhalb der Therapiemethoden, die mit Hilfe von klangveränderten akustischen Reizen versuchen, die auditiven Wahrnehmungsleistungen direkt zu verbessern, gibt es Möglichkeiten der Kompensation der Problematik.
In speziellen Übungen zu den einzelnen Teilbereichen der auditiven Wahrnehmung lernt das Kind, seine Schwächen zu erkennen, einzuordnen und so gut wie möglich damit umzugehen und sie zu kompensieren.
Je nach Ausprägung der Störung kann auch diese Art der Arbeit bereits ausreichend sein.

Verbesserung der Umgebungsvoraussetzungen für das Kind:
Die Eltern – und im günstigsten Fall auch die pädagogischen Fachkräfte – werden darüber beraten, wie sie mit den Schwierigkeiten des Kindes am besten umgehen, um es dem Kind besser möglich zu machen, die von ihm geforderten Leistungen trotz der Schwierigkeiten meistern zu können.

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